Dieser Blog wird lang! Es hat sich einiges zu verschiedenen Themen angesammelt, und da ich bereits an die Abreise denke, will ich das jetzt los werden.
Wie mir Betty schreibt, heisst das Drachenfestival Uttarayan, das überall am Makara Sankanti am 14. Januar „geflogen“ wird und auf das sich jetzt alle Jungs vorbereiten. Sie kann das dann live mitverfolgen! Die Holzspindeln sind so schön, dass ich fast eine mit nach Hause genommen hätte. Umesh hat uns erklärt, wie die Silk-Schnüre so messerscharf gemacht werden, um damit die andern Drachen zu besiegen bzw. abzuschneiden: Glas wird so fein wie möglich zerstossen oder gemahlen und dann wird ein Teil der Schnur damit beklebt. Das macht sie dann so messerscharf, dass man höllisch aufpassen muss, um sich nicht in die eigenen Finger zu schneiden.
Man muss sogar bezahlen, und nicht zu knapp, nämlich etwa
5 Lakhs, um eine solche Stelle überhaupt zu bekommen. Aber nachher ist es recht
lukrativ, so an die 50'000 Rupies im Monat, heisst es. Bessere
Polizistenstellen sind kaum unter 10 bis 20 Lakhs zu haben.
So lange die Armut so gross ist, wird auch die Korruption bestehen. Das war übrigens die häufigste Warnung: du wirst das Elend und die Armut nicht ertragen!
Es ist ja auch nicht zu ertragen. Aber eine Haltung dazu muss man
finden. Zum Beispiel die Kinder, die zum Betteln auf die Strassenkreuzungen
geschickt werden, nicht unterstützen, damit dieser Missbrauch nicht noch
gefördert wird. Das ist übrigens die Einstellung der Leute hier, nicht nur
meine westlich überhebliche Meinung. Eine Freundin hat immer Biskuits dabei,
die gibt sie den Kindern, wenn sie was zu essen wollen. Kranke und alte Leute
bekommen immer einige Münzen.
Die Armut ist allgegenwärtig, gerade an der Strasse zum Assi Ghat, also sozusagen vor unserer Haustüre, sitzen oft Bettler, denn es kommen hier viele Gläubige vorbei, die nach einem rituellen Bad und dem Tempelbesuch schon mal etwas spenden.
Vor
Feiertagen reservieren sich die Bettler ihre Plätze oft schon morgens um 3 Uhr
oder, wie jetzt vor Dev Deepawali, schon am Abend vorher. Dafür reisen sie auch
aus den umliegenden Dörfern an. Einige fragen nett, freuen sich über eine Gabe,
andere schimpfen einem hinterher, wenn es ihnen nicht genügt. Ich habe mal
versucht, wie die Einheimischen Reis zu
verteilen. Aber es reicht ja nie für alle,
und so hat mich ein Junge bis zur Haustüre verfolgt und nachher solange
dagegen getreten, bis ihn Santoos fortgejagt hat. Es ist schwierig, das zu
ertragen, man kommt sich echt postkolonialistisch vor und leidet immer unter einem
unbestimmt schlechten Gewissen. Manchmal hilft nur die Scheuklappenstrategie,
und ab und zu Bananen oder Münzen verteilen.
In Varanasi gibt
es eine besondere Variante der Armut. Strenggläubige Hindus möchten in Varanasi
sterben und verbrannt werden. Die Asche
wird anschliessend im Ganges verstreut. Weil das vor der Wiedergeburt schützt, reisen viele alte und kranke Leute nach Varanasi, um hier zu sterben. Es gibt für
die Kranken und Mittellosen eigentliche Sterbehäuser, wo sie Unterkunft und
Verpflegung finden. Wie und weshalb auch immer, es gibt einige, die sich wieder
erholen. Aber da sie alles verkauft haben, Land, Haus und Hof, können sie nicht
mehr zurück und müssen bleiben.
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Auf diesem Bild
sieht man die Slum-Varianten: die besseren Hütten sind aus Stein, an die
Strassenmauer angebaut und manchmal mit einer Art Vordach auf der Strasse, dann
dahinter die Zelthütten, sie beherbergen oft Familien. Alles ist immer sauber
gewischt. Zwei Mädchen machen sich bereit für die Schule. Direkt an der Strasse
dann stehen die Hüttchen aus einigen Brettern und Plastik, offen zur Strasse
hin. Da schlafen sie dann, machen sich am morgen einen Tee und einen halben
Meter entfernt gehen die Leute vorbei. Keine Privatsphäre. Wer sich kein Gas
zum Kochen leisten kann, verwendet getrocknete Kuhfladen. Und damit das Feuer
schön brennt, benutzt man einen Ventilator.
Bettler ist auch ein Beruf, man reist zu den einträglichen Feierlichkeiten an. Bei all dem Elend tut es gut, auch solches zu erleben: einer der Bettler hat hinter dem Haus in aller Ruhe sein Huhn verspeist und ist dann wieder an die „Arbeit“ gegangen. Und auch dies: im gewaltigen Gedränge auf der Dashaswmedh Ghat Road habe ich einem alten Man einige Münzen gegeben, und auf dem Rückweg ist er uns wieder begegnet. Er hat meine Hände genommen, um mir nochmals zu danken. Und zum Schluss: die Bettlerinnen vor dem Alice Boner House haben uns bei der Abreise zugewinkt und eine gute Reise gewünscht ...
Wie mir Betty schreibt, heisst das Drachenfestival Uttarayan, das überall am Makara Sankanti am 14. Januar „geflogen“ wird und auf das sich jetzt alle Jungs vorbereiten. Sie kann das dann live mitverfolgen! Die Holzspindeln sind so schön, dass ich fast eine mit nach Hause genommen hätte. Umesh hat uns erklärt, wie die Silk-Schnüre so messerscharf gemacht werden, um damit die andern Drachen zu besiegen bzw. abzuschneiden: Glas wird so fein wie möglich zerstossen oder gemahlen und dann wird ein Teil der Schnur damit beklebt. Das macht sie dann so messerscharf, dass man höllisch aufpassen muss, um sich nicht in die eigenen Finger zu schneiden.
Im vorletzten
Blog habe ich Graffenried erwähnt, dessen Ausstellung in Varanasi ich gesehen
habe, wenigstens teilweise. Tolle Bilder, zum Teil sehr intim. Wie gesagt, ich
hätte mich einiges davon nicht getraut!
Er hat offensichtlich den Mut zum
Risiko (und sicher auch ein starkes Objektiv), aber einige der Fotos kamen in
Varanasi nicht gut an, wie ich im Tagesanzeiger lese. Von Zensur ist die Rede,
weil er unter anderem eine von der Polizei zu Tode geprügelte Frau zeigt oder wie hier die Retttung einer heiligen Kuh aus dem Schlamm.
Ich kann mir gut vorstellen, dass solche Kritik, und dann noch von Ausländern, nicht
gerne gesehen wird. Auch die sozialkritisch ausgerichteten Kunst wirkt eher
zaghaft, wenigstens das, was ich gesehen habe. Im Indian Artfair Ende September
gab es wenig kritische Werke zu sehen, und wenn, dann eher allgemein gegen Unterdrückung gerichtet. Öffentliche Provokation und Kritik wird nicht gerne gesehen, vor allem nicht von Ausländern. Umesh wollte bei den Bauern wegen der zu kurz angebunden Kälber nicht für mich übersetzen, sie sähen das halt anders. Ich habe nicht insistiert.
Missstände wie der
Scavengerskandal werden immerhin auch hier in die Zeitungen thematisiert und sind
bis nach Europa und in den TagesAnzeiger gelangt, anlässlich des Welt-WC-Tages
– aber ob auch etwas passiert, ist eine ganz andere Frage. Seit 1993 ist es gesetzlich verboten, Menschen
zum Reinigen der Kanalisation, der Kloaken und der verschissenen Geleise
einzusetzen, aber das hat an der Praxis nichts geändert. Von Hand holen diese Menschen die Scheisse der
andern heraus und tragen sie in Körben, meist auf dem Kopf, in die Deponien.
Diese Arbeit wird von der untersten Kaste ausgeführt, die auch das geringste politische Gewicht hat. Viele Leute meinen "das ist halt Schicksal". Der
grösste Auftraggeber ist die staatliche Eisenbahn.
Hugo Stamm war
oder ist auch gerade in Varanasi, habe ich im TA gelesen. http://newsnetz-blog.ch/hugostamm/blog/2012/12/04/beim-geld-hort-die-frommigkeit-auf/Was er in den
ersten zwei Absätzen schreibt, habe ich auch festgestellt, aber der restliche
Artikel scheint mir ziemlich schnell geschrieben, sehr schweizerisch und auch
nicht so gut informiert. Die Inder zum Beispiel sind sich das Feilschen gewöhnt,
und sie wissen ganz genau, was es bedeutet, im „teuersten“ Monat zu heiraten. Von
Umesh wissen wir, dass es auch anders geht, und dass es auch Liebesheiraten
gibt. Natürlich müssen die Sadhus
schauen, wie sie zu Geld kommen, ebenso die Tempel, die sind ja nicht über
Steuergelder finanziert! 
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Wenn Herr Stamm
von „Eintauchen“ spricht, hoffe ich doch sehr, dass er das auch macht. Da kann
man wirklich etwas erleben, was in der Schweiz so nicht zu finden ist. Gerade
die privaten Pujas sind sehr berührend. In einem der nächsten Blogs schreibe
ich dann über die Chhath Puja, das hätte er erleben sollen! Von solchen Besucherzahlen kann die Kirche in der Schweiz nur träumen.
Der Artikel erinnert mich ein wenig an die Schweizerin, die so
enttäuscht ist von Indien, weil die Leute immer an Geld denken würden und so
gar nicht spirituell seien. Was erwarten die eigentlich? Dass alle mit
verklärtem Lächeln für ihre Hungerlöhne 12 oder 14 Stunden am Tag arbeiten? Und
keinerlei irdische Gelüste haben oder sich wenigstens einmal im Leben eine schöne
Zeremonie leisten möchten, denn man ist doch erleuchtet und steht über dem
schnöden Mammon? Ich kriege gleich die Krise. Die Kommentare im TA von Ronnie
König fand ich übrigens sehr spannend und nicht so einseitig und eng
wie der Stamm-Artikel.
In den Zeitungen
wie der HinduTimes ist jeden Tag von neuen Korruptionsfällen die Rede, in
Politik und Wirtschaft. Auch im Alltag ist dies sichtbar: der Verkehrspolizist,
der ganz beiläufig von jedem Tuktukfahrer seine 10 Rupies bekommt, die dafür in
der falschen Richtung in die Einbahn fahren können. Die vielen Polizisten, die
in Häusern wohnen, die sie sich nie und nimmer vom offiziellen Lohn leisten können.
Der Museumswächter, der für den Eintritt nur die Hälfte verlangt, wenn wir kein
Ticket haben wollen. Die Kellner, die das Bier nicht auf die Rechnung setzen,
sondern bar einziehen, weil das eben so sei. Oder die Abgabenstationen zwischen
den Staaten: das sind lukrative und äusserst gesuchte Posten, weil
offensichtlich ein Teil der Steuern am Staat vorbei in die Taschen der
Angestellten fliesst.
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Undsoweiter. Für
Leute, die 6 Tage pro Woche 12 Stunden hart arbeiten und dafür 3000 oder auch
5000 Rupien verdienen, ist das ein Hohn. Korruption, Bestechung, Schmiergelder
... Hier geht es ums Überleben, zugreifen, wo man kann, wer weiss, wie lange der Job sicher ist! Bei
den niedrigen Löhnen hier könnte man schon fast ein wenig Verständnis
aufbringen, aber so findet der Staat kaum aus der Misere heraus. Verwerflich
finde ich es dann, wenn es blosse Gier ist, Gier nach noch mehr Geld. Beispiele
dafür sind zuhauf in allen westlichen Ländern zu finden – Fifa, EADS usw.
So lange die Armut so gross ist, wird auch die Korruption bestehen. Das war übrigens die häufigste Warnung: du wirst das Elend und die Armut nicht ertragen!
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Die Armut ist allgegenwärtig, gerade an der Strasse zum Assi Ghat, also sozusagen vor unserer Haustüre, sitzen oft Bettler, denn es kommen hier viele Gläubige vorbei, die nach einem rituellen Bad und dem Tempelbesuch schon mal etwas spenden.
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Viele von ihnen wohnen in diesen kläglichen
Hüttchen aus Stecken und Schnüren und Plastikplanen, wie dieser Mann hier.
Er
sitzt den ganzen Tag im Schneidersitz da, und nachts schläft er hier, wie so
viele nur in eine Decke gehüllt. Und jetzt wird es nachts ziemlich kühl, 8 bis
10 Grad, und das ist erst der Anfang.
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Bettler ist auch ein Beruf, man reist zu den einträglichen Feierlichkeiten an. Bei all dem Elend tut es gut, auch solches zu erleben: einer der Bettler hat hinter dem Haus in aller Ruhe sein Huhn verspeist und ist dann wieder an die „Arbeit“ gegangen. Und auch dies: im gewaltigen Gedränge auf der Dashaswmedh Ghat Road habe ich einem alten Man einige Münzen gegeben, und auf dem Rückweg ist er uns wieder begegnet. Er hat meine Hände genommen, um mir nochmals zu danken. Und zum Schluss: die Bettlerinnen vor dem Alice Boner House haben uns bei der Abreise zugewinkt und eine gute Reise gewünscht ...
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