Wednesday 12 December 2012

Von Zensur, Korruption und Armut

Dieser Blog wird lang! Es hat sich einiges zu verschiedenen Themen angesammelt, und da ich bereits an die Abreise denke, will ich das jetzt los werden.

Wie mir Betty schreibt, heisst das Drachenfestival Uttarayan, das überall am Makara Sankanti am 14. Januar „geflogen“ wird und auf das sich jetzt alle Jungs vorbereiten. Sie kann das dann live mitverfolgen! Die Holzspindeln sind so schön, dass ich fast eine mit nach Hause genommen hätte. Umesh hat uns erklärt, wie die Silk-Schnüre so messerscharf gemacht werden, um damit die andern Drachen zu besiegen bzw. abzuschneiden: Glas wird so fein wie möglich zerstossen oder gemahlen und dann wird ein Teil der Schnur damit beklebt. Das macht sie dann so messerscharf, dass man höllisch aufpassen muss, um sich nicht in die eigenen Finger zu schneiden.

Im vorletzten Blog habe ich Graffenried erwähnt, dessen Ausstellung in Varanasi ich gesehen habe, wenigstens teilweise. Tolle Bilder, zum Teil sehr intim. Wie gesagt, ich hätte mich einiges davon nicht getraut! 
Er hat offensichtlich den Mut zum Risiko (und sicher auch ein starkes Objektiv), aber einige der Fotos kamen in Varanasi nicht gut an, wie ich im Tagesanzeiger lese. Von Zensur ist die Rede, weil er unter anderem eine von der Polizei zu Tode geprügelte Frau zeigt oder wie hier die Retttung einer heiligen Kuh aus dem Schlamm.
Ich kann mir gut vorstellen, dass solche Kritik, und dann noch von Ausländern, nicht gerne gesehen wird. Auch die sozialkritisch ausgerichteten Kunst wirkt eher zaghaft, wenigstens das, was ich gesehen habe. Im Indian Artfair Ende September gab es wenig kritische Werke zu sehen, und wenn, dann eher allgemein gegen Unterdrückung gerichtet. Öffentliche Provokation und Kritik wird nicht gerne gesehen, vor allem nicht von Ausländern. Umesh wollte bei den Bauern wegen der zu kurz angebunden Kälber  nicht für mich übersetzen, sie sähen das halt anders. Ich habe nicht insistiert.

Missstände wie der Scavengerskandal werden immerhin auch hier in die Zeitungen thematisiert und sind bis nach Europa und in den TagesAnzeiger gelangt, anlässlich des Welt-WC-Tages – aber ob auch etwas passiert, ist eine ganz andere Frage. Seit 1993 ist es gesetzlich verboten, Menschen zum Reinigen der Kanalisation, der Kloaken und der verschissenen Geleise einzusetzen, aber das hat an der Praxis nichts geändert.  Von Hand holen diese Menschen die Scheisse der andern heraus und tragen sie in Körben, meist auf dem Kopf, in die Deponien. Diese Arbeit wird von der untersten Kaste ausgeführt, die auch das geringste politische Gewicht hat. Viele Leute meinen "das ist halt Schicksal". Der grösste Auftraggeber ist die staatliche Eisenbahn.
  
Hugo Stamm war oder ist auch gerade in Varanasi, habe ich im TA gelesen. http://newsnetz-blog.ch/hugostamm/blog/2012/12/04/beim-geld-hort-die-frommigkeit-auf/Was er in den ersten zwei Absätzen schreibt, habe ich auch festgestellt, aber der restliche Artikel scheint mir ziemlich schnell geschrieben, sehr schweizerisch und auch nicht so gut informiert. Die Inder zum Beispiel sind sich das Feilschen gewöhnt, und sie wissen ganz genau, was es bedeutet, im „teuersten“ Monat zu heiraten. Von Umesh wissen wir, dass es auch anders geht, und dass es auch Liebesheiraten gibt.  Natürlich müssen die Sadhus schauen, wie sie zu Geld kommen, ebenso die Tempel, die sind ja nicht über Steuergelder finanziert!

 Wenn Herr Stamm von „Eintauchen“ spricht, hoffe ich doch sehr, dass er das auch macht. Da kann man wirklich etwas erleben, was in der Schweiz so nicht zu finden ist. Gerade die privaten Pujas sind sehr berührend. In einem der nächsten Blogs schreibe ich dann über die Chhath Puja, das hätte er erleben sollen! Von solchen Besucherzahlen kann die Kirche in der Schweiz nur träumen. 


Der Artikel erinnert mich ein wenig an die Schweizerin, die so enttäuscht ist von Indien, weil die Leute immer an Geld denken würden und so gar nicht spirituell seien. Was erwarten die eigentlich? Dass alle mit verklärtem Lächeln für ihre Hungerlöhne 12 oder 14 Stunden am Tag arbeiten? Und keinerlei irdische Gelüste haben oder sich wenigstens einmal im Leben eine schöne Zeremonie leisten möchten, denn man ist doch erleuchtet und steht über dem schnöden Mammon? Ich kriege gleich die Krise. Die Kommentare im TA von Ronnie König fand ich übrigens sehr spannend und nicht so einseitig und eng wie der Stamm-Artikel.

In den Zeitungen wie der HinduTimes ist jeden Tag von neuen Korruptionsfällen die Rede, in Politik und Wirtschaft. Auch im Alltag ist dies sichtbar: der Verkehrspolizist, der ganz beiläufig von jedem Tuktukfahrer seine 10 Rupies bekommt, die dafür in der falschen Richtung in die Einbahn fahren können. Die vielen Polizisten, die in Häusern wohnen, die sie sich nie und nimmer vom offiziellen Lohn leisten können. Der Museumswächter, der für den Eintritt nur die Hälfte verlangt, wenn wir kein Ticket haben wollen. Die Kellner, die das Bier nicht auf die Rechnung setzen, sondern bar einziehen, weil das eben so sei. Oder die Abgabenstationen zwischen den Staaten: das sind lukrative und äusserst gesuchte Posten, weil offensichtlich ein Teil der Steuern am Staat vorbei in die Taschen der Angestellten fliesst. 
Man muss sogar bezahlen, und nicht zu knapp, nämlich etwa 5 Lakhs, um eine solche Stelle überhaupt zu bekommen. Aber nachher ist es recht lukrativ, so an die 50'000 Rupies im Monat, heisst es. Bessere Polizistenstellen sind kaum unter 10 bis 20 Lakhs zu haben. 
Undsoweiter. Für Leute, die 6 Tage pro Woche 12 Stunden hart arbeiten und dafür 3000 oder auch 5000 Rupien verdienen, ist das ein Hohn. Korruption, Bestechung, Schmiergelder ... Hier geht es ums Überleben, zugreifen, wo man kann,  wer weiss, wie lange der Job sicher ist! Bei den niedrigen Löhnen hier könnte man schon fast ein wenig Verständnis aufbringen, aber so findet der Staat kaum aus der Misere heraus. Verwerflich finde ich es dann, wenn es blosse Gier ist, Gier nach noch mehr Geld. Beispiele dafür sind zuhauf in allen westlichen Ländern zu finden – Fifa, EADS usw.






So lange die Armut so gross ist, wird auch die Korruption bestehen. Das war übrigens die häufigste Warnung: du wirst das Elend und die Armut nicht ertragen! 
Es ist ja auch nicht zu ertragen. Aber eine Haltung dazu muss man finden. Zum Beispiel die Kinder, die zum Betteln auf die Strassenkreuzungen geschickt werden, nicht unterstützen, damit dieser Missbrauch nicht noch gefördert wird. Das ist übrigens die Einstellung der Leute hier, nicht nur meine westlich überhebliche Meinung. Eine Freundin hat immer Biskuits dabei, die gibt sie den Kindern, wenn sie was zu essen wollen. Kranke und alte Leute bekommen immer einige Münzen.


 

Die Armut ist allgegenwärtig, gerade an der Strasse zum Assi Ghat, also sozusagen vor unserer Haustüre, sitzen oft Bettler, denn es kommen hier viele Gläubige vorbei, die nach einem rituellen Bad und dem Tempelbesuch schon mal etwas spenden. 
Vor Feiertagen reservieren sich die Bettler ihre Plätze oft schon morgens um 3 Uhr oder, wie jetzt vor Dev Deepawali, schon am Abend vorher. Dafür reisen sie auch aus den umliegenden Dörfern an. Einige fragen nett, freuen sich über eine Gabe, andere schimpfen einem hinterher, wenn es ihnen nicht genügt. Ich habe mal versucht,  wie die Einheimischen Reis zu verteilen. Aber es reicht ja nie für alle,  und so hat mich ein Junge bis zur Haustüre verfolgt und nachher solange dagegen getreten, bis ihn Santoos fortgejagt hat. Es ist schwierig, das zu ertragen, man kommt sich echt postkolonialistisch vor und leidet immer unter einem unbestimmt schlechten Gewissen. Manchmal hilft nur die Scheuklappenstrategie, und ab und zu Bananen oder Münzen verteilen.

In Varanasi gibt es eine besondere Variante der Armut. Strenggläubige Hindus möchten in Varanasi sterben und verbrannt werden.  Die Asche wird anschliessend im Ganges verstreut. Weil das vor der Wiedergeburt schützt, reisen viele alte und kranke Leute nach Varanasi, um hier zu sterben. Es gibt für die Kranken und Mittellosen eigentliche Sterbehäuser, wo sie Unterkunft und Verpflegung finden. Wie und weshalb auch immer, es gibt einige, die sich wieder erholen. Aber da sie alles verkauft haben, Land, Haus und Hof, können sie nicht mehr zurück und müssen bleiben. 
Viele von ihnen wohnen in diesen kläglichen Hüttchen aus Stecken und Schnüren und Plastikplanen, wie dieser Mann hier. 
 Er sitzt den ganzen Tag im Schneidersitz da, und nachts schläft er hier, wie so viele nur in eine Decke gehüllt. Und jetzt wird es nachts ziemlich kühl, 8 bis 10 Grad, und das ist erst der Anfang.

Auf diesem Bild sieht man die Slum-Varianten: die besseren Hütten sind aus Stein, an die Strassenmauer angebaut und manchmal mit einer Art Vordach auf der Strasse, dann dahinter die Zelthütten, sie beherbergen oft Familien. Alles ist immer sauber gewischt. Zwei Mädchen machen sich bereit für die Schule. Direkt an der Strasse dann stehen die Hüttchen aus einigen Brettern und Plastik, offen zur Strasse hin. Da schlafen sie dann, machen sich am morgen einen Tee und einen halben Meter entfernt gehen die Leute vorbei. Keine Privatsphäre. Wer sich kein Gas zum Kochen leisten kann, verwendet getrocknete Kuhfladen. Und damit das Feuer schön brennt, benutzt man einen Ventilator. 









Bettler ist auch ein Beruf, man reist zu den einträglichen Feierlichkeiten an. Bei all dem Elend tut es gut, auch solches zu erleben: einer der Bettler hat hinter dem Haus in aller Ruhe sein Huhn verspeist und ist dann wieder an die „Arbeit“ gegangen. Und auch dies: im gewaltigen Gedränge auf der Dashaswmedh Ghat Road  habe ich einem alten Man einige Münzen gegeben, und auf dem Rückweg ist er uns wieder begegnet. Er hat meine Hände genommen, um mir nochmals zu danken. Und zum Schluss: die Bettlerinnen vor dem Alice Boner House haben uns bei der Abreise zugewinkt und eine gute Reise gewünscht ...

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