Wednesday 26 December 2012

Finale


Und schon ist unser Abenteuer vorbei! Kaum zu glauben. Der Kopf ist immer noch voll von Eindrücken, und die Festplatte voll mit Fotos. Zum Abschluss einige „vermischte Meldungen“.

Wenn es kalt wird, tragen die Männer gestrickte Pullover oder Westen (“Lismer“), bevorzugt in Pink, Orange, Blau mit Glimmereffekt.

Ein Bruder darf seine Schwester nicht massieren, auch wenn er ausgebildeter Masseur ist (und sie starke Rückenschmerzen hat).

Ein Vater, der selber eine Liebesheirat eingegangen ist, verwöhnt seinen Jungen, der nach zwei Mädchen geboren wurde, über alle Massen: das ist sein Prinz. Zur Frage, ob er seinem Sohn später einmal eine Liebesheirat erlauben würde, hat er sich ausgeschwiegen.

In New Delhi ist vor einigen Tagen eine Studentin von mehreren Männern vergewaltigt worden.  Die Frauen sind empört und wütend. Mittlerweile hat es diese Meldung auch in die Schweizer Zeitungen geschafft (die Zensur Graffenrieds schaffte es schneller). Die Polizei hat die Demonstrationen verboten,  dennoch gehen die Leute auf die Strasse. Frauen gelten in Indien immer noch nicht viel, Jungen sind die Prinzen, meist ungezogen und total verwöhnt. Die verklemmte und unterdrückte Sexualität schürt dieses Klima noch, aber auch Unwissen und ein Mass an Unaufgeklärtheit, das man fast nicht fassen kann: ein Politiker sagte öffentlich, dass es früher weniger Vergewaltigungen gegeben hätte. Schuld sei die zunehmende Verpflegung mit Chowmein, das heisst mit chinesischem Fastfood. Da kann man schon SEHR wütend werden. Hm.

In der Jayn-Religion spielen Frauen eine marginale Rolle. Sie können nicht erleuchtet werden, nur wenn sie als Mann wiedergeboren werden, haben sie eine Chance, ins Nirwana zu gelangen. Hm.

Der Krishnatempel in Delhi ist eine Disney-Krishna-Welt. Gross angelegt, mit einer eher scheusslichen Architektur. Die Krönung ist ein Diorama, in dem mit Licht- und Soundeffekten die Vorzüge von Hare Krishna gepriesen werden. Im Paradies sitzt Krishna mit einer weissen Frau auf einer Schaukel, einige weitere Frauen – ebenfalls weiss – bringen Trauben. Unter den Plastikbäumen steht ein Reh. Wir werden durch die Show gehetzt, die Männer wollen schliessen. Nachher ist man von jeglichem Krishnakult, sollte man den einen haben,  kuriert! Hm. 

In der Moschee, in der der zweit-wichtigste Sufu begraben ist, dürfen die Frauen nicht in den innern Bezirk. Sie dürfen Wünsche  äussern und Gelübde tun, dafür binden sie einen ihrer Bangles ans Marmorgitter, und sie dürfen da hindurchschauen. Ich spreche lange mit einer Inderin über unterdrückte Sexualität und wie viele Männer alle Probleme den Frauen anlasten. Siehe oben.

 Abstauben: Meist wird der Staub in die Flucht „geschlagen“, d.h. mit Lappen wird auf die  Möbel eingedroschen. In der Mosche schwingt ein Angestellter einige Fetzen Stoff an einem langen Seil  über die Marmorflächen.  Im Observatorium lehnt ein Eigenkonstrukt in der Ecke, damit werden die Stukkaturen und Schnitzereien hoch oben abgestaubt. Arbeitsbeschaffung: ein Angestellter staubt im Flughafen die Decke und vor allem die Zwischenräume zwischen Lampen und Decke ab. Es ist eben immer alles voll Staub. Die Blätter der Bäume entlang der Strasse sind fast weiss davon und dauernd kratzt es im Hals.

Die wunderschön farbigen Matratzen und Quilts werden meistens auf dem Boden vor dem Shop genäht, und dann wird der Staub herausgeklopft oder eher geprügelt.




Santoos nimmt jeden Tag den Boden auf, in der typisch indischen Krebsgangart: kauernd und halb rückwarts, halb seitwärts wird der Boden von Hand geputzt. Der Lappen ist immer derselbe, und ein halber Kübel Wasser reicht für  zwei Stockwerke. Die Bewegung ist äusserst elegant, und sie würde vielen Westlern die Gelenkigkeit erhalten und das Fitnesscenter ersparen!


Das Bedientwerden muss man lernen. Pushpa, die Köchin im Alice-Boner-Haus, hat es gar nicht gerne gesehen, wenn ich das Geschirr in die Küche tragen wollte. Immerhin durfte ich ihr beim Kochen zuschauen, die Hindinamen für die Gewürze lernen und den Gurkensalat auf den Tisch stellen. Alles andere ist ihr Revier. Und beim Gemüserüsten hilft Santoos. Hierarchien einhalten.


Der Metzger in Lajpat Nagar, Für diejenigen, die die Fotos auf Facebook noch nicht gesehen haben: Es gibt im ganzen Markt nur einen Metzger. Er schneidet das Fleisch im Sitzen, indem er das Messer zwischen die Zehen klemmt und mit beiden Händen das Fleisch darüber zieht. Ausserordentlich geschickt und schnell schneidet er nicht nur das Fleisch, sondern befreit es auch von Sehnen und  Fett.

Die Gemüsejungs, bei denen wir immer unser Gemüse holen, schlafen in den Kisten unter ihrem Stand. Es geht ihnen sehr wahrscheinlich besser als den Landbauern, denen es mehr als dreckig geht.

 

In Varanasi gibt es Wiedehöpfe, Redwhiskered Bulbuls, Kingfishers und natürlich auch Milane.

In der Vahdehra Gallery war eine Ausstellung von Wolfgang Laib. Grossartig! Beeindruckt haben mich  "Milk" und "Pollen".  Das Gelb der Pollen sieht so flauschig aus, dass man sofort an Kaschmir denken muss - unter anderem. Manchmal verirrte sich ein Moskito auf die Pollenfläche, dann mussten die Angestellten Pollen nachschütten.


Der Mann, der mit seinem Kohlebügeleisen meine Kleider gebügelt hat, verlangte pro Kleidungsstück 4 Rupien. Der Velohändler flickte Annies Velo für 5 Rupien.  Der Coiffeur (Friseur) kostete Matthias 100 Rupien. Ein Croissant kostet 60 Rupien. Ein grosser Sack Gemüse kommt auf etwa 100 Rupien. Sandeep, der Hausverwalter in Delhi, verdient mit seinem Tagesjob 3000 Rupien.  Im November ist er Vater geworden. Im Januar kann er endlich nach Hause fahren und seinen Sohn erstmals sehen. Die Reise dauert 24 Stunden, davon geht er die letzte Stunde zu Fuss durch den Dschungel in sein Dorf. Sein Traum: er möchte seine Frau und seinen Sohn nach Delhi bringen.

Am Connaught Place haben wir die Konditorei Wenger gesucht und gefunden - Schweizer Herkunft. Die Ofenchüechli waren Spitze! Auf dem Weg dahin haben wir den Elektriker mit den schönsten Augen getroffen. Allerdings nicht ganz so schön wie die grünen Augen des Bootsmanns in Varanasi, den ich mich nicht getraute um eine Foto zu bitten.

Die Männer tragen traditionellerweise diese dreieckigen Stoffunterhosen - hab den Namen vergessen. Der Ayurvedamasseur hat Alex erklärt, wie sie zu tragen sind - das Dreieck kommt nach hinten, dann fest anziehen. Eben.


Ich hatte ziemlich viel Gepäck und keine Waage. Also sind wir am frühen Morgen zu den Recycling-Jungs marschiert und haben meinen Koffer gewogen.
 
Am Flughafen: Ohne gültiges Ticket kommt man nicht hinein, also Abschied auf draussen auf der Strasse. 
Jedes Handgepäck kriegt einen eigenen Anhänger, der gestempelt werden muss. In der Sicherheitskontrolle werden diese Stempel kontrolliert und dann wird die Stempelnummer, mein Name, die Flugnummer und was weiss ich noch alles von Hand in ein grosses Buch eingetragen.
Der junge Soldat, der meine Sachen auf das Band der Sicherheitskontrolle legt, will unbedingt den Namen meiner Tochter erfahren, weil er sie heiraten will. Mich könne er ja nicht heiraten ...

Der halbvolle Mond liegt in New Delhi auf dem Rücken.

Nun, das war der letzte Indien-Blog, und ich  möchte mich bei allen Leser und Leserinnen herzlich bedanken. Natürlich für die Lektüre, aber auch für die Kommentare. Und das Wichtigste: ich hätte ganz vieles schon längst vergessen, wenn ich nicht diesen Blog geschrieben hätte. Nun kann ich mich in Ruhe den Tausenden von Fotos widmen.
 

Monday 17 December 2012

Chhath Puja

Frauen Frauen Frauen. Alle in leuchtende Saris gekleidet, geschminkt, mit Vorfreude in den Augen. Sie singen, während sie durch die Gasse unter unserem Haus zum Assi Ghat ziehen. Am Ufer des Ganges sind die Lehmschneider am Werk – sie befreien die Stufen des Assi Ghat vom Lehm, den die Ganga im Monsun angeschwemmt hat. Das machen sie mit Wasserdruck – aus vollen Rohren spritzen sie den Schlamm weg, eine langwierige Arbeit. 
 


Die Frauen beginnen mit dem Abstecken kleiner Reviere, so reservieren sie sich einen Platz für die Puja. Die Chhat Puja ist es eine Zeremonie zu Ehren des Sonnengottes, aber auch zu Ehren der Mutter Ganga. Es ist eine Zeremonie, die vorwiegend den Frauen vorbehalten ist. 
Am Montagnachmittag kommen viele Frauen mit dem Boot aus den umliegenden Dörfern, dann gehen sie zu ihrem Tempel, immer singend, und kommen gegen Abend zurück an das Ghat. Sie bringen Opfergaben in Körben, Zuckerrohrstängel und ein Messinggefäss für Gangawasser, Malas und Kerzen. Geduldig sitzen sie in ihren kleine Revieren, bauen Hügel für die Malas und Kerzen, beten und singen. Irgendwann gehen sie zum Ufer, tauchen  unter, weihen die Opfergaben und ziehen sich schnell um, es wird kalt abends. Für die Kinder gibt es dieses Ur-Riesenrad ... 




Es sind Tausende, eher Zehntausende von Frauen, Kindern und Männern, die am Ufer des Ganges kauern, was bei der Steilheit gar nicht so bequem ist. Trunken von den Farben und den schönen Gesichtern knipsen und schauen wir, bis es zu dunkel ist. Kinder sprechen mich immer wieder an, sie möchten ein Foto – das Wichtigste ist, dass sie sich auf dem LCD-Schirm sehen können. Am andern Morgen stehen wir um halb fünf auf und fädeln uns in den konstanten Strom von Menschen ein, die sich wiederum einen Platz um Ufer suchen.  Die Rollenverteilung ist klar: es ist ein Fest für die Frauen, die Männer tragen ihnen die Körbe mit dem Gemüse und den Früchten, die später geweiht werden. Sie tragen auch die Zuckerrohrstangen, die sie in den Schlamm oder Lehm rammen. Geduldig sitzen die Gruppen zusammen, beten oder singen, hüllen sich und die Kinder in Decken, denn es ist ziemlich kalt.  Wir stehen inmitten der vielen Leute und sehen, dass das ganze Ufer hinauf  und hinunter voll Menschen ist – alle Frauen, die irgendwie die Möglichkeit finden, sind jetzt am Ganges. 

Dann, nach etwa zwei Stunden, streckt plötzlich eine Frau den Arm aus und deutet übers Wasser, weitere Arme heben sich und ein tausendfaches „Ah!“ geht durch die Menge: die Sonne wird begrüsst. Feuerrot und majestätisch schiebt sie sich langsam durch den Dunst über dem Ganges. Und nun beginnen die Zeremonien: die Frauen, die zum Teil schon seit einer Stunde im Wasser stehen (brrr), tauchen nun mehrmals unter, die Opfergaben werden in die vier Himmelsichtungen gedreht, Wasser wird in Krüglein geschöpft und in alle Himelsrichtungen vergossen, und schon drängen die andern nach, die nun den Hang hinunterklettern. Alles geht sehr friedlich zu, getragen von einer heiteren Spiritualität. Man spürt den ungebrochenen Glauben, tief empfunden, ohne Zweifel am eigenen Tun. Das ist die berührendste Zeremonie, die wir hier erlebt haben, und das waren nicht wenige!



Die Männer helfen ihren Frauen oder Müttern, über den schlüpfrigen Lehm sicher nach unten zu kommen, sie tragen die Opferkörbe. Ein junger Mann erzählt, dass er hier in Varanansi studiert und für seine Mutter hierher gekommen ist, weil sie die Reise nicht machen konnte. Es gibt einige wenige Männer, die das rituelle Bad nehmen, darunter auch ein Sadhu. Bei ihm geht es schnell, er halt wohl sehr kalt! Nach dem rituellen Bad ziehen sich die Frauen um, und da sie alle Saris tragen, geht das schnell und fast unbemerkt. Fremde merken manchmal gar nicht, dass es ums Kleiderwechseln geht, so schnell und geübt sind sie. 
 






Die Sonne wärmt nun schon ein wenig, nur meine Füsse sind eiskalt. Es ist ein gemeinsames Erwachen aus der Starre, alle sind fröhlich und etwas übermütig, wie nach einer gemeinsam überstandenen Prüfung. Langsam beginnen die Leute ihre Dinge einzupacken. Die Menge – Hunderttausende entlang der Ghats – löst sich langsam auf, ohne Drängeln, ohne Regulierungen.
 



So viele Menschen! Die schiere Masse ist fast nicht zu fassen. Gibt es ein  religiöses jährliches Ritual zum Beispiel bei den Christen, das solche Massen mobilisieren kann? Das so ruhig und friedlich abläuft? 

Auch Werbung gehört dazu - das hier ist für ein Haaröl, nicht etwa für Milch, wie ich zuerst dachte ...
 Es geht die ganze Woche so weiter - Puja um Puja, und die Pandits singen den ganzen
Tag das Ramayana. 



Auch der Sadhu weiss sich sein Einkommen zu sichern - gegen eine milde Gabe steigt das Karma - moderner Ablasshandel. In Delhi gibt es die "Sonntagssadhus", die nur am Sonntag zu den Tempeln gehen und gegen Bares gutes Karma versprechen.
Die Männer steigen morgens um halb sieben in den Ganges - noch ist es "warm" bei ca. 7 Grad, bald wird es kälter. 



 Und an einem Nachmittag eine grosse Aufregung: eine Gemeinde holt ihren Sadhu vom Ganges ab - mit einem Elefanten! Der Sadhu ist mit dem Auto gefahren, sein Schüler aber kletterte geschickt hoch.






Wir haben den Sadhu, der sich "International Beggar" nennt, in dem Quartiertempel besucht. Gerade als wir kamen, ging die Theatervorstellung über das Ramayana zu Ende - das hätte mich interessiert! Was für ein Zelt!
Der Gehilfe des Sadhu hat uns dann - gegen einen kleinen Obolus (Herr Stamm, hätten Sie das auch bezahlt?) - auf der Umrundung der Zeremonienhütte begleitet - mindestens 5 Umrundungen sollte man machen, damit es fürs Karma etwas nützt. Umesh und seine Frau haben 11 bzw 42 Umrundungen gemacht, am besten sind 101. Das grösste Interesse aber hatten die Kinder an Alex' Kamera!

Ist er nicht schön?

Wednesday 12 December 2012

Von Zensur, Korruption und Armut

Dieser Blog wird lang! Es hat sich einiges zu verschiedenen Themen angesammelt, und da ich bereits an die Abreise denke, will ich das jetzt los werden.

Wie mir Betty schreibt, heisst das Drachenfestival Uttarayan, das überall am Makara Sankanti am 14. Januar „geflogen“ wird und auf das sich jetzt alle Jungs vorbereiten. Sie kann das dann live mitverfolgen! Die Holzspindeln sind so schön, dass ich fast eine mit nach Hause genommen hätte. Umesh hat uns erklärt, wie die Silk-Schnüre so messerscharf gemacht werden, um damit die andern Drachen zu besiegen bzw. abzuschneiden: Glas wird so fein wie möglich zerstossen oder gemahlen und dann wird ein Teil der Schnur damit beklebt. Das macht sie dann so messerscharf, dass man höllisch aufpassen muss, um sich nicht in die eigenen Finger zu schneiden.

Im vorletzten Blog habe ich Graffenried erwähnt, dessen Ausstellung in Varanasi ich gesehen habe, wenigstens teilweise. Tolle Bilder, zum Teil sehr intim. Wie gesagt, ich hätte mich einiges davon nicht getraut! 
Er hat offensichtlich den Mut zum Risiko (und sicher auch ein starkes Objektiv), aber einige der Fotos kamen in Varanasi nicht gut an, wie ich im Tagesanzeiger lese. Von Zensur ist die Rede, weil er unter anderem eine von der Polizei zu Tode geprügelte Frau zeigt oder wie hier die Retttung einer heiligen Kuh aus dem Schlamm.
Ich kann mir gut vorstellen, dass solche Kritik, und dann noch von Ausländern, nicht gerne gesehen wird. Auch die sozialkritisch ausgerichteten Kunst wirkt eher zaghaft, wenigstens das, was ich gesehen habe. Im Indian Artfair Ende September gab es wenig kritische Werke zu sehen, und wenn, dann eher allgemein gegen Unterdrückung gerichtet. Öffentliche Provokation und Kritik wird nicht gerne gesehen, vor allem nicht von Ausländern. Umesh wollte bei den Bauern wegen der zu kurz angebunden Kälber  nicht für mich übersetzen, sie sähen das halt anders. Ich habe nicht insistiert.

Missstände wie der Scavengerskandal werden immerhin auch hier in die Zeitungen thematisiert und sind bis nach Europa und in den TagesAnzeiger gelangt, anlässlich des Welt-WC-Tages – aber ob auch etwas passiert, ist eine ganz andere Frage. Seit 1993 ist es gesetzlich verboten, Menschen zum Reinigen der Kanalisation, der Kloaken und der verschissenen Geleise einzusetzen, aber das hat an der Praxis nichts geändert.  Von Hand holen diese Menschen die Scheisse der andern heraus und tragen sie in Körben, meist auf dem Kopf, in die Deponien. Diese Arbeit wird von der untersten Kaste ausgeführt, die auch das geringste politische Gewicht hat. Viele Leute meinen "das ist halt Schicksal". Der grösste Auftraggeber ist die staatliche Eisenbahn.
  
Hugo Stamm war oder ist auch gerade in Varanasi, habe ich im TA gelesen. http://newsnetz-blog.ch/hugostamm/blog/2012/12/04/beim-geld-hort-die-frommigkeit-auf/Was er in den ersten zwei Absätzen schreibt, habe ich auch festgestellt, aber der restliche Artikel scheint mir ziemlich schnell geschrieben, sehr schweizerisch und auch nicht so gut informiert. Die Inder zum Beispiel sind sich das Feilschen gewöhnt, und sie wissen ganz genau, was es bedeutet, im „teuersten“ Monat zu heiraten. Von Umesh wissen wir, dass es auch anders geht, und dass es auch Liebesheiraten gibt.  Natürlich müssen die Sadhus schauen, wie sie zu Geld kommen, ebenso die Tempel, die sind ja nicht über Steuergelder finanziert!

 Wenn Herr Stamm von „Eintauchen“ spricht, hoffe ich doch sehr, dass er das auch macht. Da kann man wirklich etwas erleben, was in der Schweiz so nicht zu finden ist. Gerade die privaten Pujas sind sehr berührend. In einem der nächsten Blogs schreibe ich dann über die Chhath Puja, das hätte er erleben sollen! Von solchen Besucherzahlen kann die Kirche in der Schweiz nur träumen. 


Der Artikel erinnert mich ein wenig an die Schweizerin, die so enttäuscht ist von Indien, weil die Leute immer an Geld denken würden und so gar nicht spirituell seien. Was erwarten die eigentlich? Dass alle mit verklärtem Lächeln für ihre Hungerlöhne 12 oder 14 Stunden am Tag arbeiten? Und keinerlei irdische Gelüste haben oder sich wenigstens einmal im Leben eine schöne Zeremonie leisten möchten, denn man ist doch erleuchtet und steht über dem schnöden Mammon? Ich kriege gleich die Krise. Die Kommentare im TA von Ronnie König fand ich übrigens sehr spannend und nicht so einseitig und eng wie der Stamm-Artikel.

In den Zeitungen wie der HinduTimes ist jeden Tag von neuen Korruptionsfällen die Rede, in Politik und Wirtschaft. Auch im Alltag ist dies sichtbar: der Verkehrspolizist, der ganz beiläufig von jedem Tuktukfahrer seine 10 Rupies bekommt, die dafür in der falschen Richtung in die Einbahn fahren können. Die vielen Polizisten, die in Häusern wohnen, die sie sich nie und nimmer vom offiziellen Lohn leisten können. Der Museumswächter, der für den Eintritt nur die Hälfte verlangt, wenn wir kein Ticket haben wollen. Die Kellner, die das Bier nicht auf die Rechnung setzen, sondern bar einziehen, weil das eben so sei. Oder die Abgabenstationen zwischen den Staaten: das sind lukrative und äusserst gesuchte Posten, weil offensichtlich ein Teil der Steuern am Staat vorbei in die Taschen der Angestellten fliesst. 
Man muss sogar bezahlen, und nicht zu knapp, nämlich etwa 5 Lakhs, um eine solche Stelle überhaupt zu bekommen. Aber nachher ist es recht lukrativ, so an die 50'000 Rupies im Monat, heisst es. Bessere Polizistenstellen sind kaum unter 10 bis 20 Lakhs zu haben. 
Undsoweiter. Für Leute, die 6 Tage pro Woche 12 Stunden hart arbeiten und dafür 3000 oder auch 5000 Rupien verdienen, ist das ein Hohn. Korruption, Bestechung, Schmiergelder ... Hier geht es ums Überleben, zugreifen, wo man kann,  wer weiss, wie lange der Job sicher ist! Bei den niedrigen Löhnen hier könnte man schon fast ein wenig Verständnis aufbringen, aber so findet der Staat kaum aus der Misere heraus. Verwerflich finde ich es dann, wenn es blosse Gier ist, Gier nach noch mehr Geld. Beispiele dafür sind zuhauf in allen westlichen Ländern zu finden – Fifa, EADS usw.






So lange die Armut so gross ist, wird auch die Korruption bestehen. Das war übrigens die häufigste Warnung: du wirst das Elend und die Armut nicht ertragen! 
Es ist ja auch nicht zu ertragen. Aber eine Haltung dazu muss man finden. Zum Beispiel die Kinder, die zum Betteln auf die Strassenkreuzungen geschickt werden, nicht unterstützen, damit dieser Missbrauch nicht noch gefördert wird. Das ist übrigens die Einstellung der Leute hier, nicht nur meine westlich überhebliche Meinung. Eine Freundin hat immer Biskuits dabei, die gibt sie den Kindern, wenn sie was zu essen wollen. Kranke und alte Leute bekommen immer einige Münzen.


 

Die Armut ist allgegenwärtig, gerade an der Strasse zum Assi Ghat, also sozusagen vor unserer Haustüre, sitzen oft Bettler, denn es kommen hier viele Gläubige vorbei, die nach einem rituellen Bad und dem Tempelbesuch schon mal etwas spenden. 
Vor Feiertagen reservieren sich die Bettler ihre Plätze oft schon morgens um 3 Uhr oder, wie jetzt vor Dev Deepawali, schon am Abend vorher. Dafür reisen sie auch aus den umliegenden Dörfern an. Einige fragen nett, freuen sich über eine Gabe, andere schimpfen einem hinterher, wenn es ihnen nicht genügt. Ich habe mal versucht,  wie die Einheimischen Reis zu verteilen. Aber es reicht ja nie für alle,  und so hat mich ein Junge bis zur Haustüre verfolgt und nachher solange dagegen getreten, bis ihn Santoos fortgejagt hat. Es ist schwierig, das zu ertragen, man kommt sich echt postkolonialistisch vor und leidet immer unter einem unbestimmt schlechten Gewissen. Manchmal hilft nur die Scheuklappenstrategie, und ab und zu Bananen oder Münzen verteilen.

In Varanasi gibt es eine besondere Variante der Armut. Strenggläubige Hindus möchten in Varanasi sterben und verbrannt werden.  Die Asche wird anschliessend im Ganges verstreut. Weil das vor der Wiedergeburt schützt, reisen viele alte und kranke Leute nach Varanasi, um hier zu sterben. Es gibt für die Kranken und Mittellosen eigentliche Sterbehäuser, wo sie Unterkunft und Verpflegung finden. Wie und weshalb auch immer, es gibt einige, die sich wieder erholen. Aber da sie alles verkauft haben, Land, Haus und Hof, können sie nicht mehr zurück und müssen bleiben. 
Viele von ihnen wohnen in diesen kläglichen Hüttchen aus Stecken und Schnüren und Plastikplanen, wie dieser Mann hier. 
 Er sitzt den ganzen Tag im Schneidersitz da, und nachts schläft er hier, wie so viele nur in eine Decke gehüllt. Und jetzt wird es nachts ziemlich kühl, 8 bis 10 Grad, und das ist erst der Anfang.

Auf diesem Bild sieht man die Slum-Varianten: die besseren Hütten sind aus Stein, an die Strassenmauer angebaut und manchmal mit einer Art Vordach auf der Strasse, dann dahinter die Zelthütten, sie beherbergen oft Familien. Alles ist immer sauber gewischt. Zwei Mädchen machen sich bereit für die Schule. Direkt an der Strasse dann stehen die Hüttchen aus einigen Brettern und Plastik, offen zur Strasse hin. Da schlafen sie dann, machen sich am morgen einen Tee und einen halben Meter entfernt gehen die Leute vorbei. Keine Privatsphäre. Wer sich kein Gas zum Kochen leisten kann, verwendet getrocknete Kuhfladen. Und damit das Feuer schön brennt, benutzt man einen Ventilator. 









Bettler ist auch ein Beruf, man reist zu den einträglichen Feierlichkeiten an. Bei all dem Elend tut es gut, auch solches zu erleben: einer der Bettler hat hinter dem Haus in aller Ruhe sein Huhn verspeist und ist dann wieder an die „Arbeit“ gegangen. Und auch dies: im gewaltigen Gedränge auf der Dashaswmedh Ghat Road  habe ich einem alten Man einige Münzen gegeben, und auf dem Rückweg ist er uns wieder begegnet. Er hat meine Hände genommen, um mir nochmals zu danken. Und zum Schluss: die Bettlerinnen vor dem Alice Boner House haben uns bei der Abreise zugewinkt und eine gute Reise gewünscht ...